Grüner Zweig e.V., Itzehoe

 



Besondere sozialpädagogische Anforderungen an Arbeit mit Armen und Obdachlosen in Kleinstädten und im ländlichen Raum
Von Friedemann Ohms , 
Leiter "Grüner Zweig", Itzehoe

1. Einleitung: Ein „unsichtbares“ Problem

Obdachlosigkeit und extreme Armut werden in der öffentlichen Wahrnehmung fast automatisch mit Großstädten verbunden. Forschung, Medienberichte und Hilfesysteme sind stark urban zentriert. Für den ländlichen Raum und Kleinstädte gibt es deutlich weniger empirische Daten – gleichzeitig zeigt der Wohnungslosenbericht der Bundesregierung, dass Wohnungslosigkeit ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist, das Stadt und Land gleichermaßen betrifft.

In Fachdebatten wird inzwischen von einer ausgeprägten „verdeckten Wohnungslosigkeit“ im ländlichen Raum gesprochen: Menschen leben ohne eigenen Wohnraum, sind aber bei Bekannten untergebracht, schlafen in Garagen, Schuppen oder provisorischen Unterkünften und tauchen in keiner Statistik auf. Fundierte Forschung dazu entsteht erst in den letzten Jahren.

Für die Soziale Arbeit ergeben sich daraus besondere sozialpädagogische Anforderungen: Die Adressatengruppe ist schwer sichtbar, die Hilfesysteme sind ausgedünnt, die Stigmatisierung besonders hoch, und die Wege zu Hilfe sind weit – räumlich wie symbolisch.

2. Spezifische Problemlagen in Kleinstädten und im ländlichen Raum

2.1 Heterogene Lebenslagen

Wohnungslose und extrem arme Menschen bilden keine homogene Zielgruppe. Neben dem Wohnraumverlust prägen weitere Faktoren wie psychische Erkrankungen, Sucht, Schulden, Gewalt- und Beziehungserfahrungen, Migration oder Langzeitarbeitslosigkeit die Lebenslage.

In Kleinstädten und im ländlichen Raum kommen folgende Spezifika hinzu:

Verdeckte und diffuse Wohnsituationen (Untermiete, Sofasurfen, zeitweilige Unterbringung bei Familie/Bekannten).

Starke soziale Kontrolle: „Man kennt sich“ – Armut wird daher häufig verborgen.

Überlagerung von Rollen: Sozialpädagogische Fachkräfte treffen Klient:innen oft auch im Alltag, im Verein, im Dorfleben.


2.2 Strukturelle Unterversorgung

Studien zur Wohnungsnotfallhilfe weisen darauf hin, dass im ländlichen Raum Hilfesysteme lückenhaft und schlecht erreichbar sind. Öffentlicher Nahverkehr ist ausgedünnt, spezialisierte Fachberatungen, medizinische Hilfen und Notschlafstellen befinden sich meist in Mittel- oder Oberzentren.

Typische Folgen:

Menschen brechen Hilfeketten wegen Wegstrecken, Fahrkosten oder psychischer Überforderung ab.

Kommunen nutzen als „Lösung“ häufig Notunterbringung in Hotels oder einfachen Unterkünften, ohne sozialpädagogische Begleitung.

Prävention von Wohnungsverlusten ist oft zufällig und personenabhängig, nicht systemisch verankert.

2.3 Versteckte Armut und Scham

Neben offensichtlicher Obdachlosigkeit wächst im ländlichen Raum die Zahl der Menschen in verdeckter Armut: Alte mit kleinen Renten, Alleinerziehende, Menschen mit chronischen Erkrankungen. Sie erfüllen formal nicht immer die Kriterien „obdachlos“, leben aber dauerhaft prekär.

Scham, „nicht mithalten zu können“, führt dazu, dass Betroffene sich zurückziehen, Einladungen vermeiden, Beratung nicht aufsuchen. Für die Soziale Arbeit bedeutet das: Adressat:innen müssen oft aktiv „gefunde werden.

3. Sozialpädagogische Leitperspektiven

Aus dieser Gemengelage ergeben sich zentrale Leitperspektiven für professionelle Arbeit:

1. Lebensweltorientierung: Arbeit an konkreten Alltagsschwellen (Essen, Kleidung, Post, Anträge, Arztbesuch) statt abstrakter Programme.


2. Sozialraumorientierung: Der ländliche Raum ist kein „blinder Fleck“, sondern zentraler Handlungsrahmen: Dorf, Kleinstadt, Nachbarschaft, Vereine, Kirchengemeinden, lokale Betriebe.


3. Heterogenität ernst nehmen: Wohnungslosigkeit ist kein einheitlicher Status, sondern Schnittpunkt verschiedener Ausgrenzungslinien.

4. Rechts- und Strukturkenntnis: Fachkräfte brauchen solide Kenntnisse im Ordnungsrecht, SGB II/XII, Mietrecht und kommunalen Zuständigkeiten, um Betroffene wirksam zu unterstützen.

4. Besondere sozialpädagogische Anforderungen

4.1 Aufsuchende und mobile Sozialarbeit

Im ländlichen Raum reicht ein Beratungsbüro nicht aus. Nötig sind aufsuchende, mobile Formen:

Fahrten zu Treffpunkten (Bahnhöfe, Parkplätze, Dorfläden, Tafeln).

Hausbesuche oder Besuche in provisorischen Unterkünften.

Kooperation mit mobilen Diensten (Streetwork, mobile Sucht- oder Schuldnerberatung).

Fachlich gefordert ist hier eine hohe Beziehungssensibilität: Menschen im ländlichen Raum haben oft schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht und begegnen neuen Angeboten misstrauisch. Vertrauen entsteht langsam – und oft eher im Café oder beim gemeinsamen Essen als im Büro.

4.2 Arbeiten im Spannungsfeld von Nähe und Distanz

In Kleinstadt- und Dorfstrukturen ist Anonymität kaum gegeben. Sozialpädagog:innen treffen Klient:innen im Supermarkt, bei Veranstaltungen oder über Mehrfachrollen (Elternrat, Kirchengemeinde, Sportverein).

Das erfordert:

Reflektierten Umgang mit Rollenkonflikten: Was tun, wenn man den Klienten auf einer Vereinsversammlung trifft?

Eine klare professionelle Distanz, ohne Kälte zu erzeugen.

Transparenz und Einverständnis: Was darf wo und in welchem Rahmen thematisiert werden?

Gerade bei stark stigmatisierten Gruppen (Obdachlose, Suchtkranke) ist sensibler Umgang mit Vertraulichkeit entscheidend, um weitere Beschämung zu vermeiden.

4.3 Lotsenfunktion im Hilfesystem

Da spezialisierte Angebote in der Regel nur in größeren Städten vorhanden sind, wird die Soziale Arbeit im ländlichen Raum zur „Scharnierstelle“:

Erstkontakt herstellen, Problem einschätzen, Prioritäten klären.

An Fachstellen (Sucht, Schulden, Psychiatrie, Rechtsberatung, Jobcenter) vermitteln.

Begleiten zu Terminen, damit Hilfen tatsächlich in Anspruch genommen werden.


Fachkräfte übernehmen eine Koordinations- und Übersetzungsfunktion zwischen unterschiedlichen Systemen – Verwaltung, Medizin, Justiz, Wohlfahrt – und den Betroffenen.

4.4 Prävention von Wohnungsverlust

Ein wichtiger Fokus ist nicht nur die Bearbeitung eingetretener Wohnungslosigkeit, sondern die Prävention von Wohnungsverlust:

Frühzeitige Reaktion auf Mietrückstände, Mahnungen, Räumungsklagen.

Kontaktaufnahme zu Vermietern, Aushandeln von Ratenzahlungen.

Kooperation mit Fachstellen zur Wohnungssicherung und Schuldnerberatung.


Modellprojekte wie der zeigen, dass präventiv arbeitende Fachstellen im ländlichen Raum effektiv Wohnungslosigkeit verhindern können – vorausgesetzt, sie sind gut erreichbar und personell ausreichend ausgestattet.

4.5 Umgang mit psychischer Erkrankung und Sucht

Für arme und wohnungslose Menschen im ländlichen Raum gilt in besonderem Maß:

Psychische Erkrankungen werden spät erkannt und oft nicht adäquat behandelt. Der Weg zur nächsten psychiatrischen Institutsambulanz, Facharztpraxis oder Suchtberatungsstelle ist weit.


Sozialpädagogische Arbeit muss hier:

Stabilisierung im Alltag ermöglichen, Zugänge zur medizinischen und therapeutischen Versorgung bahnen, die Schnittstelle zwischen Gesundheitswesen und Lebenswelt der Betroffenen besetzen.


5. Konzepte und Handlungsansätze

5.1 Housing First – auch jenseits der Großstadt

Der international etablierte Ansatz Housing First – erst Wohnung, dann weitere Hilfen – wird zunehmend auch in deutschen Modellprojekten erprobt. Studien zeigen hohe Stabilisierungserfolge und positive Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensstruktur.

Für den ländlichen Raum bedeutet das:

Nutzung von leerstehenden Wohnungen oder kleinteiligen Wohnprojekten in Kleinstädten.

Kooperation mit kommunalen und privaten Vermietern.

Ergänzung durch aufsuchende, sozialpädagogische Begleitung.

Housing First ist kein „Stadtprogramm“, sondern ein Paradigmenwechsel: Wohnraum gilt als Voraussetzung für Hilfe, nicht als Belohnung am Ende eines langen Hilfemarathons.

5.2 Sozialräumliche Integration statt „Abschieben“

Studien zur sozialräumlichen Integration wohnungsloser Menschen betonen die Bedeutung von Einbindung in Quartier und Nachbarschaft anstatt isolierender Unterbringung am Stadtrand.

Im ländlichen Raum heißt das:

Anbindung an bestehende Sozialräume (Dorfkern, Kleinstadtzentrum, kirchliche und zivilgesellschaftliche Orte).
Nutzung von Vereinen, Kirchengemeinden, Kultur- und Nachbarschaftsinitiativen als Ressource. 
Vermeidung von stigmatisierenden „Sonderorten“, die Betroffene sichtbar aussortieren.


5.3 Kommunale Strategien und Vernetzung

Der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit der Bundesregierung fordert eine kommunale Gesamtstrategie mit Prävention, Hilfen und Wohnraumversorgung.
Für Kleinstädte und ländliche Gemeinden bedeutet das: Aufbau oder Stärkung eines kommunalen Wohnungsnotfallmanagements.
Runde Tische mit Wohnungswirtschaft, freien Trägern, Selbsthilfe, Verwaltung. Verlässliche Finanzierungsstrukturen statt reiner „Projektitis“.

Für Sozialpädagog:innen vor Ort ist diese Vernetzung doppelt wichtig: Sie können ihre fachliche Arbeit nur leisten, wenn es Kooperationspartner und strukturelle Rückendeckung gibt.

6. Fazit

Arbeit mit Armen und Obdachlosen in Kleinstädten und im ländlichen Raum ist nicht „weniger“ anspruchsvoll als in Großstädten – sie ist anders anspruchsvoll: unsichtbare Zielgruppen, lückenhafte Infrastruktur, hohe Scham- und Stigmatisierungsdynamiken,
weite Wege zu spezialisierter Hilfe, dichte, oft kontrollierende Sozialräume.

Sozialpädagogische Professionalität zeigt sich hier besonders in: der Fähigkeit, Menschen aufsuchend zu erreichen, Netzwerke im Sozialraum zu knüpfen und zu moderieren, rechtliche und strukturelle Rahmenbedingungen kompetent zu nutzen,
und dabei die Würde der Betroffenen konsequent in den Mittelpunkt zu stellen.

Wo diese Formen von Sozialarbeit gelingen, werden Kleinstädte und ländliche Regionen nicht nur zu Orten des Mangels, sondern auch zu Orten der Solidarität und des Neuanfangs – gerade für Menschen, denen lange niemand zugetraut hat, dass sie überhaupt noch irgendwo dazugehören .

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